Der globale Ausbruch von COVID-19 Ende 2019 hat uns gezwungen, unser Sein zu überdenken – nicht zuletzt unsere Beziehung zu Lebensmitteln. Spätestens jetzt stellen wir fest, dass die Frage, wie und was wir essen, eng mit einigen der großen Herausforderungen verbunden ist, denen wir uns weltweit gegenübersehen – vom Verlust der biologischen Vielfalt, dem Klimawandel und ökologischen Problemen bis hin zur persönlichen und öffentlichen Gesundheit sowie der ungerechten globalen Verteilung von Ressourcen und dem Hunger, den über eine Milliarde der Armen der Welt ertragen müssen. Gleichzeitig treten wir in eine Phase des radikalen technologischen Wandels ein, der die Art und Weise, wie wir unsere Nahrung anbauen, produzieren, verteilen und auch wahrnehmen, möglicherweise tiefgreifend verändern wird. Diese jüngsten Entwicklungen befeuern einen globalen und kontroversen Diskurs über die Bedürfnisse, Gewohnheiten und Werte der Menschheit, die in unseren Ernährungssystemen verankert sind. Zweifellos formt die Nahrung unsere biologischen Körper und unsere sozialen Beziehungen, während die Art und Weise, wie wir unsere Nahrung produzieren, zugleich einen wesentlichen Einfluss auf die Welt um uns herum ausübt.

Während des Sommersemesters 2020 wollten wir die Studierenden ermutigen, sich theoretisch und praktisch mit der aktuellen Situation rund um unsere Ernährung auseinanderzusetzen. Wir gingen den Wegen unserer Nahrungsmittel vom Anbau bis zur Verwertung nach und suchten Möglichkeiten für Interventionen in bestehende Abläufe. Wie kann Design dazu beitragen, unser Ernährungssystem zu erneuern?

Zu den Themen, die untersucht werden konnten, gehörten alternative Wege des Anbaus, der Herstellung, der Verteilung und des Konsumierens von Lebensmitteln; kulturelle und sensorische Aspekte des Essens; Lebensmittel als Medizin; die sozialen Aspekte der Beschaffung und des Kochens von Lebensmitteln; die Rhythmen und Rituale des Essens allein oder in Gemeinschaft und deren Veränderung unter den Pandemie-Bedingungen, von der Distanz im Supermarkt bis hin zu virtuellen Bieren mit Freunden. Wir druckten mit essbaren Materialien, untersuchten ihre sensorischen Qualitäten und arbeiteten mit Methoden der Molekularküche.

Externe Expert*innen brachten ihre unterschiedlichen Perspektiven und Standpunkte, die sich teilweise auch polarisierend gegenüberstanden, in der Anfangsphase des Projekts ein und bereicherten die Auseinandersetzung rund um die Zukunft unserer Ernährung.

Soziales Abstandhalten und virtuelle Geselligkeit rücken ungewohnte psychologische wie soziale Faktoren in den Vordergrund und lassen neue Formen der sensorischen und emotionalen Auseinandersetzung mit dem Essen entstehen. Die Projekte befassten sich daraufhin zum Beispiel mit der Entwicklung von Instrumenten für die Beschaffung, den Anbau, die Versorgung mit und den Konsum von Lebensmitteln in Zeiten der Kontaktsperre, mit DIY-Ansätzen für Biotechnologie und Functional Food, mit Möglichkeiten zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen und mit der Nutzung von Speiseresten als Ressource. Auch eher spekulative Ansätze, die sich mit Zukunftsszenarien nach Covid-19 auseinandersetzten und Möglichkeiten vorstellten, wie sich Gewohnheiten, Werte und Politik in Bezug auf Ernährung ändern könnten, kamen ins Spiel.Das durch Corona-Schutzmaßnahmen bedingt digitale Semester war eine Herausforderung für alle Beteiligten. WG-Zimmer und Küchen wurden in Labore verwandelt, Experimente zur Fermentation von Lebensmittelresten für die Herstellung von „Terra Preta" fanden auf den Balkonen statt, im Park wurde – mit dem gebotenen Abstand – zusammen gegessen. Eine große Herausforderung für die Designstudierenden bedeutete in diesem Semester außerdem, dass die hochschulinternen Werkstätten geschlossen waren. Nur dank externer Werkstätten und des kreativen Einsatzes der Gastexpert*innen Babette Wiezorek (3D-Druck), Peter Kuchinke (Glasherstellung) und Malu Lücking (Molekularküche) konnten mittels Livestreams und Videokonferenzen Workshops stattfinden, die Inspiration für mögliche Umsetzungen in der Zeit nach Corona gaben. Der wichtige Austausch unter den Studierenden war in der virtuellen Form erschwert, wurde aber teilweise durch analoge Zusammenarbeit kleiner Teams unter den notwendigen Abstands- und Hygieneregeln ergänzt.

Die entstandenen Ergebnisse visualisieren modellhaft und in Auszügen die unterschiedlichen Konzepte: von der Arbeit mit Wertstoffen aus der Lebensmittelindustrie über spekulative und kritische Designansätze bis hin zu Objekten und Szenarien, die die sozialen und kommunikativen Aspekte des gemeinsamen Essens thematisieren. Wir freuen wir uns, im Folgenden zwei Standpunkte von Vordenkerinnen ihrer Felder vorstellen zu dürfen, die mit Ihren Perspektiven, ihrer Definition von Herausforderungen und mit spezifischen Lösungsansätzen unterschiedliche, wertvolle Impulse für das Bearbeiten des Themas Ernährung setzten.

Tanja Busse, Journalistin und Autorin, hat uns zu Beginn des Projektes einen Einblick in die aktuelle Lage der industrialisierten Landwirtschaft gegeben, die Hintergründe dramatischer Fehlentwicklungen beleuchtet und uns die Wichtigkeit von Biodiversität vor Augen geführt. Sie machte deutlich, dass sich am bestehenden landwirtschaftlichen Ernährungssystem sehr bald etwas ändern muss – in Richtung einer großen agrarökologischen Transformation.

Chloé Rutzerveld, Future Food Designerin aus den Niederlanden, plädiert dafür, den aktuellen und globalen Problemen unseres Ernährungssystems mit einem ebenso radikalen Wandel zu begegnen. Sie regt dazu an, Ernährung in verschiedene technologiegetriebene Richtungen neu zu denken.

Beide Positionen fordern Designerinnen dazu auf, mit ihren Methoden und ihrem Handwerkszeug einen Beitrag zu leisten, um die notwendige Transformation der bestehenden Systeme voranzutreiben und Konsumentinnen an bewussteres Ernährungsverhalten oder gar ganz neue Ernährungsformen heranzuführen.

Gefördert durchBerliner Programm zur Förderung der Chancengleichheit für Frauen in Forschung und Lehre (BCP)